Lebe gesund: Geh nicht im Winter raus, bevor Du nicht eine dicke Jacke angezogen hast. Vermeide giftige Substanzen. Beweg Dich also in “bekannten Gefilden”. Dabei ist das sogenannte “Schlechte” nicht immer schlecht. Denn bestimmte Anregungen oder Anstöße durch “schädliche Einflüsse” können Dich als sogenannte Hormese stärker und gesünder machen.
Warum sind bestimmte Dinge „gut für Dich“? Warum macht Dich Krafttraining tatsächlich stärker? Warum verbessert regelmäßiges Joggen Deine aerobe Kondition und ermöglicht es Dir, Deine Zeiten zu verbessern? Warum erhöht das gelegentliche Auslassen einer Mahlzeit die Insulinempfindlichkeit, verringert Deinen Körperfettanteil, verbessert die Blutfette und macht Dich im Allgemeinen gesünder? Warum sind pflanzliche Polyphenole mit gesundheitlichen Vorteilen verbunden?
Hormese – Die Antwort auf viele Fragen
Die Politik benutzt solche Begründungen in letzter Zeit häufiger, aber Du kennst sie bestimmt auch aus anderen Lebensbereichen: Was Dich nicht umhaut, macht Dich stark. Wir werden gestärkt aus dieser Krise hervor gehen. Nur die Harten komm’ in’ Garten. Und so weiter.
In der wirklichen Welt gibt es viele belastende Dinge – von Sport über Fasten zu sekundären Pflanzenstoffe und mehr. Sie alle zwingen Dich zur Anpassung an den auferlegten Stress. Schließlich möchten Organismen inklusive uns Menschen die Homöostase, Stabilität und das Gleichgewicht aufrechterhalten.
Bei der Hormese geht es letztendlich darum, die Homöostase in einer sich verändernden Umgebung aufrechtzuerhalten. Wenn sich die Umgebung ändert – beispielsweise aufgrund einer Trainingsrunde mit Gewichten – muss der Körper stärker, gesünder und besser werden, um die Homöostase aufrechtzuerhalten und die Situation beim nächsten Auftreten zu bewältigen. Aber das Beste ist, dass Du dabei nicht nur den aktuellen Reiz kompensieren wirst. Du wirst stärker, schneller, gesünder und resistenter als zuvor. Du kannst Dir das so vorstellen: die Hormese sichert Deinen Körper ab und baut noch einen zusätzlichen Puffer ein, nur um wirklich sicher zu gehen.
Das Paradox der Hormese
So ist die Hormese scheinbar ein wesentlicher Bestandteil allen Lebens. Dies bedeutet natürlich, dass viele Dinge, von denen wir annehmen, dass sie gut für uns sind, tatsächlich „schlecht“ sind. Sie sind Stressoren, die anfänglich kurzfristig „schlechte“ Dinge für unsere Gesundheit tun, aber eine Anpassung in uns erwirken, die unsere Gesundheit langfristig verbessert.
Pilze, Bakterien, Insekten, Pflanzen und Algen sowie Tiere reagieren adaptiv auf Stressoren. Menschen sind da keine Ausnahme. Wissenschaftler haben Tausende von „Dosis-Wirkungs-Beziehungen” identifiziert, die hormetische Effekte beschreiben.1
Hormese durch Sport
Fühle Dich bitte einmal in Deine letzte Sporteinheit hinein. Es ist egal, wann das war. Wichtig ist, wie es sich angefühlt hat. Es war vielleicht sehr, sehr anstrengend, oder? Sonst reden wir meistens nicht von Sport.
Stell’ Dir vor, Du hättest direkt nach dieser Sporteinheit Blut abgegeben und es durch ein Labor analysieren lassen. Was hättest Du als Ergebnis erfahren?
- Deine Entzündungswerte waren erhöht.
- Oxidativer Stress war deutlich messbar.
- Dein Cortisol lag sehr wahrscheinlich in einem hohen Bereich.
- Deine Muskeln litten unter ausgedehnten Mikroverletzungen.
Wahrscheinlich hat Dein Körper geschmerzt – ein wohliger Schmerz hoffentlich. Du warst erschöpft, vielleicht sogar wund. Es gab bestimmt nicht viel, was Du nach dem Training in der Lage warst zu tun, außer auszuruhen, zu schlafen, zu essen und zu trinken. War es so?
Was ist außerdem nach dem Training passiert? Ich meine vorausgesetzt, dass Du wirklich nicht viel gemacht hast außer der Ruhe. Du bist wahrscheinlich stärker geworden, denn Dein Körper wappnete sich gegen zukünftige Stressoren dieser Art. Und wenn Du häufiger trainierst, war und ist dieser Effekt deutlich spürbar.
Die Entzündungsparameter sind letztendlich ein Signal an Deine Muskeln, sich selbst zu reparieren und zu stärken. Regelmäßige Trainings können sogar die oxidative Belastung senken. Dann ist es so: der Stressor bleibt, aber Du kannst viel besser mit ihm umgehen.
Hormese durch eingeschränkte Kalorienzufuhr
Eingeschränkte Kalorienzufuhr ist ebenso ein hormetischer Stressfaktor. Du kannst ihn hervorrufen, indem Du eine Mahlzeit – oder mehrere – auslässt oder indem Du sehr kleine Mahlzeiten zu Dir nimmst. Kurzum, Du isst weniger als üblich.
Dabei erwartet Dein Körper einfach “mehr”. Deswegen ist eine einschränkte Kalorienzufuhr ein echter Stressor, aber ein Stressor, der zur gleichen Zeit viele gesundheitliche Vorteile bietet. Der Mangel an Nahrung fördert nicht nur den Abbau von überschüssigem Körpergewicht (und im Fall von Intermittierendem Fasten das Behalten der Muskelmasse), sondern löst auch eine Autophagie aus. Autophagie bezeichnet den Prozess, durch den sich Zellen selbst reinigen und sprichwörtlichen “Müll”, der sich in Dir angesammelt hat, recyceln.
Hormese durch Phytochemikalien
Kommen wir zu den Pflanzen und deren Farben. Ich meine all das Bunte, was wir von der Natur “angeboten” bekommen. Du kennst doch die Ratschläge, “einen Regenbogen” zu essen, oder? Der Grund dafür ist, dass diese ganzen farbenfrohen Pflanzenpigmente eine beeindruckende Erfolgsbilanz zur Förderung der Gesundheit aufweisen.
Ich bin allerdings nicht allein mit der Meinung, dass viele der Polyphenole, Phenolsäuren und anderen bioaktiven sekundären Pflanzenstoffe einen Teil ihrer gesundheitlichen Auswirkungen über die Hormese ausüben.2
Und auch wenn Du bisher angenommen hast, dass die Pflanzen diese tollen Inhaltsstoffe alleine für Dich und Deine Gesundheit produzieren, existieren sekundäre Pflanzenstoffe in Wirklichkeit, um Pflanzen vor oxidativem Stress zu schützen und Schädlinge abzuwehren. Ja, richtig: Es handelt sich um natürliche Pestizide und Pflanzentoxine, die Insekten und andere Schädlinge fern halten sollen.
Phytochemikalien können tödlich sein. Nur diejenigen, die wir normalerweise auf unserem Teller finden, tun das meist nicht direkt. Sie haben aber das Potenzial, uns genug zu irritieren, um eine kompensatorische Anpassungsreaktion auf zellulärer Ebene zu induzieren, die zu vielen der Vorteile führt, die Obst und Gemüse zugeschrieben werden. Je nach Empfindlichkeit können allerdings schon kleine Mengen auch spürbare negative Effekte bringen. Und für uns alle gilt: Wenn wir eine Wagenladung Blaubeeren essen würden, könnten wir die Überdosis Anthocyan nicht überleben, aber ein oder zwei Handvoll scheinen vollkommen sicher und für die Meisten von uns sogar gesund zu sein.
Hormese durch Kälte
Kälteeinwirkung kann eine adaptive Reaktion hervorrufen. Und das tut sie auch für die meisten Menschen. Obwohl: die meisten Menschen verzichten auf diesen Stressor und verbringen ihre Zeit lieber bei gleichbleibender Temperatur. Ansonsten gäbe es wohl keine Heizungen, Klimaanlagen, beheizte Autos und Daunenjacken (für den Weg vom Haus zum vorgeheizten Auto).
Wie wäre es mit einer kalten Dusche? Oder hast Du manchmal Lust auf ein entspannendes kaltes Bad?
Auch hier haben Wissenschaftler beobachtet, dass ein kaltes Bad die Marker für oxidativen Stress erhöht. Allerdings nahmen gleichzeitig ebenso die Marker für die endogene Antioxidansproduktion zu.3 Das heißt, durch die Kälteeinwirkung hat unser eigener Körper viel mehr Antioxidantien produziert. Auch die Anti-Tumor-Immunität erhält durch Kälte einen hormonellen Schub.4
Hormese durch Sonnenlicht
Ja, auch die Reaktion unserer Haut auf Sonnenlicht – im Idealfall eine Bräunung – ist ein gutes Beispiel für die Hormese. Denn diese Bräune schützt unsere Haut vor Sonnenschäden, reduziert Hautkrebs5, sieht gut aus und zeigt an, dass wir Vitamin D erzeugt haben.
Hormese durch Strahlung
Unser Allgemeinwissen – und das der meisten Wissenschaftler – geht davon aus, dass ionisierende Strahlung dem linearen No-Threshold-Modell entspricht.6 Das bedeutet, dass selbst die geringste Exposition gegenüber einem Gift wie solcher Strahlung zu einem erhöhten Schadensrisiko führt. Mittlerweile gibt es zunehmende Hinweise darauf, dass niedrige Strahlendosen tatsächlich über Hormese vor Krebs schützen können.7 Für mich ist das gar nicht so unlogisch, weil es natürlicherweise auf unserer Erde Strahlung gibt.
Warum wirkt die Hormese für unsere Gesundheit?
Noch sind nicht alle Wirkmechanismen hinter der Hormese bekannt. Allerdings gibt es einen Protagonisten, der eine Hauptrolle dabei spielen könnte: NRF2. NRF2 – eigentlich “Nuclear factor E2 related factor-2” – ist ein Protein, das bei der Transkription eine wichtige Rolle spielt. Transkription ist wiederum ein wichtiger Schritt im Rahmen der Aktivierung genetischer Substanz zur Ausbildung von Strukturen und Funktionen einer Zelle. Hier geht es also darum, welche Eiweiße im Körper wie aufgebaut werden – immens wichtig für Wachstums-, Reparatur- und Erneuerungsprozesse in unserem Körper.
NRF2 hilft dem Organismus bei der Abwehr, der Entgiftung und dem Zellschutz.
Die meisten der oben aufgeführten Stressfaktoren lösen NRF2 aus:
- Sport8
- Kalorienreduktion9
- Polyphenolzufuhr10
- Strahlung11
- Sonnenlicht12
Die Dosis macht’s – auch bei der Hormese
Das hier ist mir wichtig: eine hormetische – günstige – Reaktion erhalten wir über eine (sehr) niedrige oder moderate Dosis. Dagegen führen hohe Dosen oder lang anhaltende Reize wahrscheinlich zum Gegenteil. Erinnere Dich bitte noch einmal an die Wagenladung Heidelbeeren.
Mit intermittierendem Fasten kannst Du überschüssiges Körperfett verlieren und dabei Deine Muskelmasse behalten. Dagegen kannst Du über Hunger ebenfalls einen großen Gewichtsverlust erreichen, aber nicht auf gesunde Weise.
Zwanzig Minuten in mäßiger Sonne bringen Dir eine milde Bräune und viel Vitamin D. Im Vergleich: fünf Stunden starke Sonneneinstrahlung bringen Dir einen Sonnenbrand.
Während eines kurzen stressigen Lebensereignisses hast Du auf einmal viel Adrenalin und Cortisol, was Dich aufmerksam macht in Bezug auf Deine Umgebung. Ein Jahr lang chronischer Stress wird Dich zermürben.
Und leider hat sogar NRF2 eine „dunkle Seite“: zu viel davon erhöht die Resistenz von Krebszellen gegen Chemotherapie.12
Hormese macht optimistisch
Ich persönlich denke, wir können hormetische Mechanismen für unsere Gesundheit nutzen. Denn sie sind ein wertvolles Instrument, um die Welt und all ihre unzähligen Stressfaktoren zu betrachten und zu bewerten. Im Laufe unsere Lebens werden wir ganz bestimmt auf einige von ihnen treffen – vielleicht auch auf alle. Ich finde es gut zu wissen, dass es ein echtes, quantifizierbares physiologisches Phänomen gibt, das uns so viele Fragen beantwortet. Die schweren Zeiten, die wir alle ertragen, sind möglicherweise nicht umsonst. Tatsächlich machen sie uns stärker, gesünder, schneller, fitter – einfach besser. Denk’ mal darüber nach: Mit dem Konzept der Hormese im Kopf kannst Du eigentlich nur noch als Optimist(in) durchs Leben gehen. 🙂
Übrigens, wenn Du oft müde bist und Probleme hast, überschüssiges Körperfett zu verlieren, kann das mit einer zu großen Menge an Stressfaktoren zusammen hängen. Ich habe die fünf häufigsten Auslöser für Müdigkeit und unerwünschte Gewichtszunahme in meiner kostenlosen Hashimoto-Checkliste zusammen gestellt. Lerne sie kennen, um sie anzugehen. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass die Stressdosis für Dich damit eine gesündere Tendenz bekommt. Nimm’ die Liste als Geschenk von mir an, um Dich auf Deiner Reise zu mehr Energie und Wohlbefinden zu unterstützen.
1 E. Calabrese, R. Blain 2005. The occurrence of hormetic dose responses in the toxicological literature, the hormesis database: an overview.
2 T. Son, S. Camandola, M. Mattson 2008. Hormetic dietary phytochemicals.
3 W. Siems et al 1999. Improved antioxidative protection in winter swimmers.
4 N. Shevchuk, S. Radoja 2007. Possible stimulation of anti-tumor immunity using repeated cold stress: a hypothesis.
5 M. Adams 2005. Sensible sunlight exposure prevents skin cancer; findings baffle old school doctors.
6 L. Yarris 2011. New Take on Impacts of Low Dose Radiation.
7 V. Muthusamy 2012. Acute exercise stress activates Nrf2/ARE signaling and promotes antioxidant mechanisms in the myocardium.
8 A. Martín-Montalvo et al 2011. NRF2, cancer and calorie restriction.
9 G. Scapagnini 2011. Modulation of Nrf2/ARE pathway by food polyphenols: a nutritional neuroprotective strategy for cognitive and neurodegenerative disorders.
10 J. McDonald 2010. Ionizing radiation activates the Nrf2 antioxidant response.
11 S. Kannan 2006. Low and high dose UVB regulation of transcription factor NF-E2-related factor 2.
12 X. Wang et al 2008. Nrf2 enhances resistance of cancer cells to chemotherapeutic drugs, the dark side of Nrf2.
Foto: K B @ Unsplash
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Franziska hat sich auf die Bedürfnisse von Menschen mit Autoimmunerkrankung(en) spezialisiert. Dabei richtet sie ihr Handeln an der menschlichen Natur aus: jeder Schritt zu "mehr Mensch" ist ein Schritt in Richtung gesteigerter menschlicher Gesundheit. Das bedeutet auch, durch gesunde Ernährung und Lebensweise Krankheiten möglichst gar nicht erst zuzulassen. Franziskas Artikel liefern nicht nur Wissen sondern auch Rezeptideen, denn sie ist durch ihre eigene gesundheitliche Reise zu einer kreativen Köchin geworden.
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